Eine Nacht in Treviso, ein Trauerflash reißt mich um und bestimmt den ganzen Reisetag

Treviso

von | Sep 23, 2019

Ich war gestern so fertig, dass ich ganz zeitig und völlig erschöpft ins Bett gefallen bin. Da heute das Auschecken erst bis 12:00 Uhr passieren muss und Treviso, mein heutiges Tagesziel des Roadtrips, nur 1.5 h Fahrzeit entfernt ist, habe ich mir vorgenommen, gleich 7:30 Uhr zu frühstücken, damit ich nachher noch schreiben kann.

Mein erster Blick aus dem Fenster fällt auf Wolken an den Dolomitenspitzen. Der Himmel wird sich heute noch zuziehen.

Das Frühstück

Als ich unten ankomme, bin ich die einzige und erste Person im Frühstücksraum. Das kleine Buffet befindet sich noch im Aufbau. Ich frage, ob ich wieder hoch gehen soll, aber alles ist fein, ich soll mich setzen, sagt die freundliche Servicedame. Sie bringt mir in Ruhe nach und nach die Frühstücksschätze aus der Küche direkt an den Platz.

Ich habe mir jedoch vorher noch schnell ein kleines Müsli zusammengestellt, um sie nicht unter Druck zu setzen. Der Joghurt ist wunderbar cremig, nicht so ein gesunder, magerer und stückiger saurer Joghurt. Und darauf gibt es einen Klecks selbstgemachte Pfirsichmarmelade. Das ist schon sehr lecker.

Dann geht die Fressparade los: Schinken, ähnlich dem Schwarzwälder, der hier Speck heißt, ein Mürbeteigkuchen mit Feigen, Käsestücke, Brot und der Hammer: ein Ei mit Speck in der Suppentasse, die noch heiß ist, das Eigelb ist noch flüssig. Steffen hätte dazu schmatzend gesagt „Oh mein Gott, ist das geil“. Die Dame vom Frühstücksbuffet ist ca. 55 Jahre alt und unglaublich nett und aufmerksam zu mir.

Der Trauerflash

Ich esse, und starre vor mich hin, stiere aus dem Fenster, lasse die Dinge auf mich wirken und dann passiert es plötzlich, ich muss voll heulen und kann nicht aufhören, weil

  • ich Steffen so schrecklich vermisse
  • die Dame so lieb zu mir und aufmerksam ist
  • das Essen so perfekt ist, wie wir beide es geliebt hätten
  • ich in Italien bin, ohne Steffen
  • der Kuchen schmeckt, als hätte ihn Mama gebacken

Es hört nicht auf, ich heule und heule. Ich kann es nicht stoppen. Man kann sich dann nicht zusammenreißen, das funktioniert einfach nicht.

Deswegen brauchen Menschen, die so trauern, Rückzugsorte. Manchmal sind auch bestimmte Menschen ein Rückzugsort. Sie schaffen es, durch ihre  bloße Gegenwart, einen Schutzraum für einen zu schaffen. Steffen war mein Rückzugsort. Mein sicherer Raum. Dieser Raum, dieser Mensch ist jetzt weg. Deswegen trudele ich so furchtbar und heule bei den kleinsten Zeichen von Zuwendung.

Und deswegen heule ich hier im Frühstücksraum. Ganz allein. Eine doofe Situation.

Die Dame fragt mich was denn los sei und ich erzähle ihr, dass mein Mann vor einem halben Jahr gestorben ist und ich jetzt diese Reise für ihn und mich mache. Sie sagt nur „scusi“, drückt mich und geht schnell in die Küche. Dabei sagt sie etwas auf italienisch beim Herausgehen und ist völlig fassungslos.

Glücklicherweise kommt jetzt ein Mann mit einem Kind in den Frühstücksraum. Kinder machen alles kaputt (hätte Steffen jetzt gesagt) und sie kann sich um die beiden kümmern und ich versuche in der Zwischenzeit irgendwie aus der Trauerschlaufe herauszukommen.

Ich bedanke mich bei ihr und verschwinde schnell in meinem Zimmer, um endlich den Blogeintrag von gestern zu schreiben.

Aufbruch

Gegen zehn breche ich jedoch eilig auf, denn der Laptop spinnt, die Putzfrau hat aus Versehen an der Tür gerüttelt, obwohl ein check-out bis 12:00 Uhr möglich ist. Ich beschließe, den Blog einfach in Treviso fertig zu schreiben. Hier ist jetzt gerade kein Segen drin.

Weisheit I

Wenn ich etwas im letzten Jahr gelernt habe, ist es das: man kann nichts erzwingen. Deswegen muss man Dinge einfach loslassen und gehen.

Der Supermarkt hat auch zu. Natürlich, ist ja Sonntag.

Vajont-Staudamm – die 2.

Die Katastrophe vom Vajont-Stausee geht mir seit gestern auch nicht mehr aus dem Kopf. Also fahre ich nochmal hoch, direkt zum Staudamm. Ich denke, hey, ist ja Sonntag, alle hocken in der Kirche, haste Deine Ruhe. Denkste, Puppe. Die Parkplätze sind voll. Ich parke irgendwo und laufe alles ab und mache Fotos. Es gibt Führungen, aber nur auf italienisch.

Und siehe da, eine Führung macht der nette Herr von gestern, der aus dem Museum. Wir winken uns kurz zu und freuen uns kindisch, uns wieder zu sehen.

Fahrt nach Treviso

Ich habe noch 2 Stunden bis zum check-in in im Hotel in Treviso aber nur 1,5 Stunde Fahrstrecke. Also mache ich mich auf den Weg. Da gibt es wohl unterwegs noch ein Schloss, was ganz vielversprechend ist, hat mir das Google gesagt.

Autobahn

Ich fahre und bin dabei nicht ganz bei der Sache und schwupps, finde ich mich auf der Autobahn wieder. Auf welcher ich Maut zahlen muss. Ich fluche. Das schöne Tal, wo ich ruhig hindurch dümpeln wollte, fliegt an mir vorbei. Der Vorwegweiser schreit „Treviso“. Ich katapultiere durch ellenlange Tunnel und bekomme nichts von der Landschaft mit.

Ich frage mich während der Fahrt fluchend, fahre ich jetzt einfach weiter nach Treviso oder kehre ich um und fahre alles auf der normalen Straße zurück und fahre dann wieder zurück die ganze Straße auf der normalen Straße oder der Autobahn zurück?

Bei der nächstmöglichen Abfahrt fahre ich herunter. Nur 2,10 EUR. Geht doch noch. Und die Technik habe ich auch kapiert.

Also kehre ich um und fahre direkt die Autobahn wieder zurück um Zeit zu sparen und tue so, als wäre nix passiert. Geschätzer Verlust: 4,20 EUR. Kann ich mit leben.

Weisheit II

Was ich nämlich in den letzten 4 Tagen mit mir selbst gelernt habe ist, wenn etwas Blödes passiert  oder Leute dich wegen irgendwas scheiße finden, versuche dasjenige, was dich oder die anderen nervt, einfach zu überspitzen.

Du kannst es ja nicht umkehren, du kannst einmal vorgefertigte Meinungen von anderen nie mehr ändern, du kannst es Hatern nie Recht machen.

Also lebe einfach die dir zugewiesene Rolle mit Turbo.

Also fahre ich die doofe Autobahn zurück, anstatt mich zu ärgern, dass ich die Strecke nicht gefahren bin, die ich fahren wollte. Einfach noch mal richtig rein in den Schmerz, das Schlimme noch schlimmer machen.

Klassiker:

Natürlich fällt mir bei der zweiten Mautkasse das Rückgeld zwischen Kassensäule und Auto.

Und natürlich muss ich mich an der Autotür aus dem Auto quetschen, während andere hinter mir stehen und warten.

Fick Dich, Scheiß Tag!

Das Schicksal gibt mir jedoch Recht, die geplante Strecke ist wunderschön und ich bereue keinen Fahrkilometer.

Klogeschichten

Ich fahre nun wie geplant weiter in die Richtung der heutigen Sehenswürdigkeit „Burg“, bevor ich weiter nach Treviso fahre und muss natürlich auf Toilette. Nirgends ein Wald. Doof. Also fahre ich irgendwo ab, wo es nach Wald aussieht. Nirgends findet sich irgendeine Parkmöglichkeit.

Aber am Ende der Straße findet sich eine Herberge. Ich stürze zur Tür herein und bestelle mir einen Caffe Doppio con Latte – also doppelter Espresso mit Milch. Ich frage nach der Toilette, der Mann verweist mich nach irgendwo draußen.

Ich rüttele an irgendeiner Tür. Der geschlossenen Terassentür zur geöffneten Pizzeria. Man scheucht mich weg.

Ich geh zurück zum Mann und sehe jetzt das Toilettenschild. Ich zeige auf meinen Kopf und sage „loco“. Er lacht und stellt mir den Kaffee hin.

Das Klo ist ein Hockklo. Indien lässt grüßen. Aber davor habe ich keine Angst. Es hat sogar eine Wasserspülung.

Das heutige Hotel

Dann fahre ich weiter. Ich skippe das Schloss. Das ist mir alles heute irgendwie zu anstrengend und ich habe für heute die Faxen dicke. Es kann jetzt nur noch schlimmer werden. Also fahre ich direkt zum Hotel.

Hotel Scala in Treviso

Das Hotel ist ein etwas in die Jahre gekommenes Hotel mit fantastischem 90er Flair direkt an der Einfallstraße zum Zentrum. Es gibt einen kleinen Parkplatz auf dem Grundstück und WLAN. Aber keinen Restaurantbetrieb.

Es ist absolut ruhig im Hotel, es scheint, als wäre ich der einzige Gast. Schon wieder so ein Stephen-King-Moment.

Das Zimmer ist kuschlig, ich habe ein Einzelbett und meine Ruhe. Es ist super sauber. Mehr brauche ich nicht.

Natürlich fängt es jetzt an zu regnen. Draußen.

Natürlich.

Ich gehe also auf mein Zimmer und schreibe den Blog endlich zu Ende.

In Treviso

Der Regen hört etwas auf, also schnappe ich mir mein Fahrrad und fahre Richtung Altstadt von Treviso. Ich möchte der Stadt eine Chance geben an diesem doofen Tag.

Man soll nicht sagen, ich hätte es nicht versucht.

Trevisos Altstadt ist wunderbar für Fahrräder ausgebaut. Treviso befindet sich auf dem Fahrradweg Venedig-München. Das muss man mögen, so eine Strecke fahren zu wollen. Über die Alpen.

Es ist nachmittags um 3, natürlich haben jetzt gerade alle Restaurants geschlossen und ich Hunger. Mein Italien-Zeitmanagement muss noch verbessert werden. Supermärkte haben heute auch geschlossen. Natürlich. Es ist ja immer noch Sonntag.

Irgendwo kaufe ich mir ein überteuerten Avocado-Lachs-Toast. Dann schau ich mir die Stadt an. Reiche, schöne und wohlgekleidete Menschen schlendern durch die Stadt. Teure Läden haben geöffnet. Ich fühle mich direkt überhaupt nicht wohl.

Irgendwann kapituliere ich und fahre zurück ins Hotel und trinke einen Prosecco von der Lobby mit mir allein. Das ist das Einzige, was sie an Alkoholika da haben und wozu ich heute noch fähig bin.

Abendessen

Kann es noch trostloser werden? Ja. Kann es. Abends gehe ich in ein American Diner, welches sich 5 Minuten zu Fuß vom Hotel entfernt befindet, essen. Es ist billig und zu mehr habe ich heute auch keine Kraft. 

Natürlich kommen kurze Zeit später die perfekten Familien mit ihren Kindern. Na klar, es ist ja Sonntagabend.

Das sind so Dinge, die ich in meinem Zustand so überhaupt nicht ertrage. Das ist ein Leben, welches von meinem derzeitigen Lebensmodel Lichtjahre und Dimensionen entfernt ist.

Das exakte Gegenstück zu meinem frisch vaporisierten Leben. Da kann ich noch nicht tolerant mit umgehen, egal wieviel ich reflektiere (nicht nur vor dem Spiegel!).

Auf meinem Zimmer schaue ich auf das Datum des heutigen Tages und realisiere:

22.09.2019

Heute vor sieben Monaten ist Steffen gestorben. 7 Monate! Kein Wunder, dass der Tag so scheiße ist, wie er ist. Der 22. jeden Monats ist bisher richtig scheiße.

Das reicht jetzt. Jetzt brauche ich einen Katastrophenfilm. Überspitzen, ihr wisst schon.

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