Erinnerungen – die Ratte
Ein Fluch und auch Segen der modernen Zeiten sind ja die täglich aufploppenden Erinnerungen an die „gute alte Zeit“. Hier ist eine wunderbar morbide Geschichte zum Jahrestag der toten Ratte im Kofferraum. Achtung! Wäh!
Gerade träumt man noch den wildesten Wahnsinn, wähnt sich sicher und glücklich, denn ständig taucht da Steffen in den Träumen auf. Heute Nacht träumte ich zum Beispiel von meinem Steffen, der mit ganz vielen Pizzen in der Badewanne saß und in eine davon glücklich biss, und dann wacht man auf und realisiert ganz langsam, dass Steffen halt nicht da ist. Um die Gefühle zu beruhigen, scrollt man nach dem ersten Toilettengang wie wild durch die neuen Medien, welche einen stets mit den Erinnerungen des heutigen Tages gesplittet auf die letzten Jahre versorgen.
Heute war das Telefon so reizend, mich mit dieser Erinnerung vom 02.09.2015 zu versorgen. Diese ist so bizarr und „wäh“, dass ich sie unbedingt mit euch teilen möchte.
Aber Vorsicht beim Lesen, besonders wenn Ihr gerade gegessen habt oder etwas zart besaitet seid! Es wird eklig. Ich habe Euch gewarnt!!!
Die Ratte
Es ist Anfang September 2015. Gerade lag ein sehr langer, trockener und warmer August hinter uns. Die Wiesen sind vertrocknet, die Luft ist noch vom Sommer staubig. Es ist immer noch warm und trocken, der Herbst will nicht kommen.
Auf der Wiese in der Nähe der Mülltonnen haben es sich Ratten in einem riesigen Rattennest wohnlich eingerichtet. Die Ratten hatten in der Zwischenzeit so ein Zutrauen zu den Menschen gewonnen, so dass sie nur noch ganz langsam den Drahtzaun zu den Mülltonnen hoch und runter hangelten. Man konnte fast ihre dicken Rattenbäuche kitzeln, wenn sie da so gemütlich auf Augenhöhe herumturnten.
Der Exodus
Natürlich hatten sich die Bewohner meines Mietshauses beschwert, so dass die Hausverwaltung etwas unternehmen musste. Also wurden in einer Großkampfaktion überall Rattenköder ausgelegt. Und zwar solche von der Sorte, wo das Gift erst langsam wirkt. Also auf die Art, dass die Vorkoster-Ratte nicht sofort stirbt und daher das Gefressene als „ok“ durchwinkt und aus diesem Grund alle anderen Ratten den Köder fressen. So kam es, dass auf diese Weise das ganze Nest ausgerottet wurde. Die sterbenden Ratten verteilten sich, als sie in ihren Schmerzen das Nest verließen, sternförmig über den gesamten Parkplatz hinter dem Haus und krepierten irgendwo jämmerlich.
Der ganze Hof roch innerhalb von kürzester Zeit nach toter Ratte.
Ich kann tote Ratten riechen
Da ich nach meinem Bandscheibenvorfall nur noch mit dem Fahrrad in die Metro und in die Küche fuhr, bekam ich von dem Drama gar nicht so viel mit, denn jeden Morgen gingen wir getrennte Wege, Steffen zur Hintertür hinaus zum Auto und ich zur Vordertür hinaus, zum Fahrrad.
Und jedes Mal erzählte mir dann Steffen in der Metro, wo wir nach unserer ersten Tour wieder aufeinander trafen, wie furchtbar es auf dem Parkplatz stinken würde.
Und jedes Mal, wenn er vom Ausliefern zurück zur Küche kam, fluchte er, dass es obendrein auch noch in der ganzen Stadt nach toter Ratte riechen würde. Langsam war er richtig genervt. Überall in der Stadt roch es nach toter Ratte.
Da wir gerade etwas Zeit bis zur nächsten Auslieferung hatten, beschlossen wir, unter das Auto zu schauen, da uns schwante, dass die Geruchsquelle vielleicht ganz nah liegen könnte.
Die Entdeckung
Und siehe da: aus der Motorhaube baumelte ein Rattenschwanz heraus.
Angewidert sprang Steffen auf. „Was machen wir denn jetzt? Ich kann das nicht anfassen, das sieht aus wie eine Schlange!“. Steffen hatte eine riesige Panik vor Schlangen. „OK, ich mache es“ sagte ich, „aber nicht hier, lass uns das zuhause auf dem Parkplatz machen“.
Gesagt, getan. Sicherheitshalber noch ein paar Einweghandschuhe eingepackt und die letzte Auslieferung in Angriff genommen.
Jetzt, da wir es wussten, fiel es uns richtig auf:
An jeder Kreuzung drehten sich die Fußgänger nach unserem Auto um, da es so stank. Schillernde Schmeißfliegen setzten sich in der gleißenden Sonne auf der weißen Motorhaube ab.
Es musste unbedingt heute geschehen!
Die Stunde der Wahrheit
Zuhause angekommen, nahm ich mir allen Mut zusammen. Steffen legte mir noch einen Kistendeckel hin, damit ich mich auf dem Boden nicht so schmutzig machen würde.
Ich zog mir also die blauen Einweghandschuhe an, Hygiene geht schließlich alle an, und legte mich flach auf den Boden auf den Bauch, direkt auf den Kistendeckel. Das ging nicht ganz so schnell, denn mein Rücken war durch den Bandscheibenvorfall noch etwas angeschlagen, also ächzte ich dabei wie eine alte Oma.
Steffen stand nun hinter mir und hatte den Auftrag, mich im Ernstfall so schnell wie möglich an den Beinen aus der Situation herauszuzerren.
So rutschte ich mit Hilfe des Deckels vorsichtig unter das Auto.
Ich konnte den Schwanz der Ratte schon sehen. Das arme Tier ist offensichtlich in seiner Todesangst in einen Zwischenraum zwischen Motorblock und Abdeckung gekrochen und dort jämmerlich verreckt. Der Spalt, durch den sie sich geschoben hatte, war ziemlich schmal.
Nun liege ich da und denke mir, wie ich das jetzt am geschicktesten löse und überlege mir so, dass es wohl das beste sei, beherzt am Schwanz zu ziehen.
Achtung! Ab jetzt „wäh“!
Gesagt, getan. Ich strecke mich noch ein bisschen, bis ich mit den Fingerspitzen den Schwanz erreiche und kommuniziere alles an Steffen, der hinter mir steht und sich vor Ekel windet.
Mit einem kräftigen Ruck ziehe ich am Schwanz. Und ganz leicht löst sich die Haut vom Schwanz. Die Ratte bleibt jedoch wo sie ist. Der Schwanz auch.
Offensichtlich gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Körpervolumen vor dem Eintritt durch den schmalen Spalt und dem aktuellen Volumen der Ratte.
Ich muss mich fast übergeben. Die Vorstellung über die abgepellte Rattenschwanzhaut macht mich verrückt. „Steffen, gib mir einen Stock!“
Geschwind sucht mir Steffen einen schmalen langen Stock, der genau in den Spalt passt und gibt ihn mir.
Ich bin jetzt sehr unzufrieden mit der Gesamtsituation. Das muss doch irgendwie gehen! Und pieke in den schmalen Spalt und rüngele darin herum. Es ist weich und groß da. Gleich wird mir wieder übel. Ich versuche mit dem Stock irgendwie die Ratte herauszufischen. Das geht natürlich nicht. Ich werde noch wütender. Nun stoße ich beherzt mitten in das Weiche.
Spotz!
Ich pikse mitten in die aufgeblähte und sich bereits auflösende Ratte. Eine üble Geruchswolke macht sich sofort breit. „Steffen, zieh mich sofort hier raus!!!!“ brülle ich. Es kommt mir gleich wieder hoch. Ich will nicht hierhin kotzen. Mein Rückenschmerz ist kurz vergessen. Eine riesige Wolke von grün-schillernden Schmeißfliegen setzt sich sofort auf die Motorhaube und den Kühlergrill.
Steffen der alte Horrorfilmfan stellt fest, dass die Rattenschmonze bis durch den Kühlergrill gespritzt ist. Eine furchtbare Wolke aus Gestank steht über dem Auto, noch viel schlimmer als zuvor.
Nach dem Schreck brauchen wir ein Bier und beratschlagen uns.
Glücklicherweise fahren wir am nächsten Tag zu meinem Papa, da er Geburtstag hat. Also beschließen wir, die 300 km mit offenen Fenstern, 150 km/h und der Autoheizung auf Anschlag zu fahren. Das wird wohl die Rattenreste austrocknen.
Gesagt, getan. Und siehe da, es funktioniert.
Seitdem hat es in dem Auto nie wieder nach Verwesung gerochen und der Geist der toten Ratte hat sämtliche Rattennachahmer abgewehrt.
Und wir hatten immer eine Top-Rattengeschichte.